Valerie Solanas unternahm am 3. Juni 1968 in New York City einen Mordversuch auf Andy Warhol. Sie wartete auf ihn vor seiner Factory, der kreativen Kunst-Kommune, und fuhr mit ihm und seinem Freund Jed Johnson im Aufzug in sein Büro in die vierte Etage des Gebäudes. Nach einem kurzen Wortwechsel zog Valerie Solanas unvermittelt eine Pistole aus einer Papiertüte und feuerte drei Kugeln auf ihn ab. Zwei Kugeln verfehlten seinen Körper, eine Kugel traf: Sie trat in den linken Lungenflügel ein, durchbohrte Galle, Magen, Leber und Speiseröhre und trat schließlich durch den rechten Lungenflügel wieder hinaus ins Freie. Andy Warhol fights for life. Etwa drei Stunden später sprach sie einen Polizisten an der Kreuzung Broadway und Seventh Avenue an und sagte ihm, dass sie von der Polizei gesucht werde, weil sie auf Andy Warhol geschossen habe. „Er hatte zu viel Kontrolle über mein Leben.“
Valerie Solanas wurde am 9. April 1936 in Atlantic City, New Jersey, geboren. In ihrem Geburtsjahr erschienen die Romane Vom Winde verweht von Margaret Mitchell, Absalom, Absalom von William Faulkner und Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht von Joseph Roth. Valerie Solanas hatte eine ältere Schwester. Ihr Vater Louis arbeitete als Barkeeper. Von ihrer Mutter ist nichts bekannt. Nach dem Schulabschluss im Juni 1954 begann sie ein Studium der Psychologie an der University of Maryland. Ihr Studium finanzierte sie durch Prostitution. Auf einem Gruppenfoto der Studentinnen von 1958 steht Valerie Solanas mit Flanellhemd und Overall inmitten von jungen Frauen mit Bubikragen, Twinset, Perlenkette, Dauerwelle und einem kerngesunden Lächeln auf den Lippen. Ein Fremdkörper in einer Idylle.
Seit 1965 lebte Valerie Solanas in Greenwich Village, einem Stadtteil von Manhattan in New York City. Sie bot ihr SCUM Manifesto, ein fünfzigseitiges Pamphlet über die Verkorkstheit der Welt, die Unerträglichkeit der Verhaltensmuster von Männern und Frauen mit dem Aktionsaufruf für einen totalen Neustart und Neubeginn der Gesellschaft einschließlich der biologischen Vernichtung aller Männer, im Handverkauf an, war obdachlos, ernährte sich von Essensresten, die in den Fast-Food-Restaurants, Cafés und Parkanlagen zurückgelassen wurden, und verdiente etwas Geld durch Gelegenheitsprostitution. Sie lernte schließlich Andy Warhol kennen und war bald darauf Gast in seiner Factory. Sie wollte, dass er ihr Theaterstück Up your Ass (Leck mich) produzierte. Er zeigte anfangs ein großes Interesse an ihrem Stück. Das Projekt wurde schließlich nicht weiter verfolgt, die Handlung des Stücks war ihm zu obszön. Sie vertraute ihm in diesen Wochen ihr einziges Manuskript an, das im Menschengetümmel der Factory jedoch spurlos verschwand. Valerie Solanas glaubte später, dass Andy Warhol ihr das Stück gestohlen habe.
1967 spielte Valerie Solanas eine kleine Rolle in Andy Warhols Film I, A Man. Sie spielte sich selbst. Nachdem sie in einem Telefongespräch mit Andy Warhol eine Erhöhung ihrer ursprünglich vereinbarten Gage von 25 US-Dollar verlangte, wurde sie von den Anwesenden und Mitgliedern in der Factory ausgegrenzt und nicht mehr weiter beachtet. Als ihr im Herbst 1967 wegen rückständiger Mietzahlungen das Zimmer im Chelsea Hotel, einer populären Künstler-Absteige, gekündigt wurde, bildete sich in ihrem Kopf die fixe Idee von einer konspirativen Verschwörung gegen ihre Person, gegen ihre Künstlerschaft. Sie machte vor allem Andy Warhol dafür verantwortlich. Sie beschimpfte ihn mehrfach am Telefon.
In der Gerichtsverhandlung gab sie an, dass sie ihn kurz vor dem Abdrücken einen Aasgeier und Dieb genannt habe. Er habe in seinen Filmen die Frauen als dumme Püppchen dargestellt und damit degradiert, was sie zornig und wütend machte. Sie bereue ihre Tat nicht. „Mit ihm zu reden ist so, als ob man mit einem Stuhl redet.“ Valerie Solanas wurde von zwei Gerichtspsychiatern für geisteskrank und nicht schuldfähig erklärt und zu drei Jahren Haft in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt. Nach ihrer Entlassung 1971 bis zu ihrem Tod lebte sie als Homeless People, schlief auf Parkbänken, seit den 1980er-Jahren im warmen Kalifornien.
Valerie Solanas ist Autorin des SCUM Manifesto. Der erste Satz ihres Manifestes lautet: Life in this society being, at best, an utter bore and no aspect of society being at all relevant to women, there remains to civic-minded, responsible, thrill-seeking females only to overthrow the government, eliminate the money system, institute complete automation and destroy the male sex. („Das Leben in dieser Gesellschaft ist ein einziger Stumpfsinn, kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren, den aufgeklärten, verantwortungsbewussten und abenteuerlustigen Frauen bleibt daher nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten.“)
In einem Interview mit der Zeitschrift Village Voice erklärte Valerie Solanas später, dass ihr SCUM Manifesto nicht als ernst gemeinte Handlungsanleitung gedacht gewesen war.
Zwei Monate bevor man sie tot auffand, gewann Mike Tyson erstmals den Weltmeistertitel im Schwergewicht gegen Larry Holmes in ihrer Geburtsstadt Atlantic City, New Jersey. Und Katarina Witt gewann am 27. Februar 1988 für sich selbst und die vor dem Zusammenbruch stehende Deutsche Demokratische Republik die Goldmedaille im Eiskunstlauf bei den Olympischen Winterspielen in Calgary, Kanada.
Am 25. April 1988 brach der Hausmeister des Obdachlosenheims in der Mason Street 56 in San Francisco ihr Zimmer auf. Valerie Solanas war mit der Mietzahlung im Rückstand und wurde seit einer Woche nicht mehr gesehen. Er fand sie kniend vor, ihr Oberkörper lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett. Auf ihrem leblosen Körper wimmelte es von Maden. Todesursache: Erstickungstod durch Lungenemphysem. In ihrem Zimmer befand sich eine Schreibmaschine, daneben ein Stapel beschriebener Seiten. Woran sie schrieb und was mit dem Manuskript passierte, weiß heute niemand mehr.
Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Valerie Solanas und Andy Warhol? Was hat ihren Lebensweg zusammengeführt? Beide wuchsen in einem katholischen Elternhaus auf. Bevor Andy Warhol am Tag des Mordversuchs sein Privathaus verließ, betete er zusammen mit seiner Mutter. Beide stammten aus Arbeiterfamilien. Beide verbrachten ihre Kindheit in Armut. Beide waren in der Schule Außenseiter. Vor allem: Beide konnten mit der Sexualität nichts anfangen. Valerie Solanas verachtete die Sexualität als Ausdruck des Machtkampfes zwischen Männern und Frauen, als Symbol der weiblichen Abhängigkeit und als Schlachtfeld der Niederlagen und Kränkungen. Bei Andy Warhol war es wesentlich einfacher, er war asexuell. Zum Amüsement und Zeitvertreib legte er eine Sammlung von Polaroidfotos von Schwänzen prominenter Besucher und Gäste in der Factory an. Wenn er Lust dazu hatte, fragte er einen Promi, ob er ein Foto von seinem Penis machen dürfe. Die Polaroidfotos der Schwänze von denjenigen, die unbekümmert Ja sagten, befinden sich heute in The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts in der Bleecker Street in New York City unter Verschluss; diese nackten Tatsachen haben das Licht der Öffentlichkeit bislang noch nicht erblickt. Im engsten Freundeskreis, unter uns, wurde mit den Polaroidfotos ein Ratespiel veranstaltet: Man musste raten, welcher Schwanz welchem Prominenten gehörte.
Nach dem Mordversuch auf Andy Warhol stiegen die Marktpreise für seine Kunstwerke um das Zehnfache. 2.000 US-Dollar verwandelte sich plötzlich wie durch ein Wunder in 20.000 US-Dollar. Als er am 22. Februar 1987 unerwartet an den auftretenden Komplikationen einer Gallenblasenoperation im New York Hospital im Alter von erst 58 starb, hinterließ er ein Privatvermögen von mehr als 100 Millionen US-Dollar. Als die Leiche von Valerie Solanas am 25. April 1988 in einem Zimmer in San Francisco gefunden wurde, hinterließ sie nichts weiter als ein paar verrückte Spuren ihres Lebens und drei abgefeuerte Kugeln, eingelagert in der Asservatenkammer des New York City Police Departments.